Cholud Kassem vor Bildern Ihrer Serie Weeping Pillows, Aufnahme: Jana Stahl
1986 durfte ich schon einmal über Cholud Kassem schreiben, die ich damals seit drei Jahren kannte.
[..] Sie ist nicht nur stark, sicher und frech, sondern auch nachdenklich oder traurig, und dann mag ich sie um so mehr. […]
Auch 36 Jahre später ist die Künstlerin der selbe liebenswerte Mensch, über den ich mich das zu sagen traute. Stark wirkt sie nach außen. Dass sie sensibel und verletzlich sein kann, kann man aus ihren Bildern lesen.
Die Serien
»Schutzlinge«, »Wudus«, »Dem Himmel sei Dank«, »Superkarmas«, »Burka Hidschab Nonnenschleier«. Das sind fünf der vielen Titel, die Cholud ihren Bilderserien gegeben hat. »Weeping Pillows« (Weinende Kissen) heißt die bislang jüngste, die in der Zeit der Lockdowns entstand.
Hier als Slideshow ein paar Arbeiten aus der Serie »Schutz- und Tarnhelme II«, 2017, Acryl und Wachsmalkreide auf Fotokarton, fotografiert hat Dorothea Burkhardt:
Manchen springen zuerst die Farben ins Auge, anderen die sinnbildlichen Formen. Cholud Kassem lässt dem Betrachter offen, was er sieht oder sehen möchte.
Veronika Haas fragte im Interview anlässlich des Literaturherbstes Heidelberg, ob Malerei für sie »stumme Poese« sei. Die gekürzte Antwort Choluds:
Es darf rätselhaft bleiben […] die Bilder können aber ganz bestimmt erspürt werden. Das ist doch dann wohl das Poetische, oder?
Von Bagdad bis Heidelberg
Ende der Fünfziger Jahre kam Cholud mit den Eltern nach Deutschland, dreieinhalb Jahre alt. Der Vater blieb mit den Kindern hier, die Mutter fühlte sich fremd und ging zurück nach Bagdad. Cholud sollte sie erst 40 Jahre später wieder treffen.
Der Vater war jung und studierte, und so wuchs Cholud bei Pflegeeltern in Viernheim auf, später in einem katholischen Kinderheim. Die Pflegeeltern hatten Hühner und Hasen, die Nonnen strenge Regeln und interessante Rituale. Auch wenn sie in der Schule nur im Fach Kunst gut abschnitt – dass sie einmal selbst Künstlerin werden sollte, war nicht vorgesehen: In Mannheim ließ sie sich zur Zahnarzhelferin ausbilden.
Doch ein Freund machte ihr Mut: Sie bestand die Begabtenprüfung und begann an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg zu studieren: Deutsch, Geografie und Kunst. In der Kunst fühlte sie sich sofort zu Hause. In Heidelberg bald auch.
Und es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis die Arbeiten entstanden, die uns heute beeindrucken.
Die Themen
Die Titel der Serien geben Hinweise darauf, was Cholud beschäftigt: Jede Serie spiegelt auf ihre Art eine Epoche ihres Lebens, beschäftigt sich mit Erinnertem, Erlebtem. Das Malen hilft beim »Aufräumen«, hilft schöne und weniger schöne Erlebnisse zu sortieren.
Ich male gerne bis spät in die Nacht, und es ergibt sich dann oft dieser Zustand des ›Bei-sich-Sein‹, fast wie bei einer Meditation. An den Serien arbeite ich oft über Monate, oft auch Jahre… und während ich daran male, weiß ich oft selbst nicht ganz genau, warum mich während bestimmter Phasen in meinem Leben bestimmte Themen bewegen und trotzdem ihre Form finden. Erst im Nachhinein wird es mir deutlich, auch über Gespräche mit Betrachtern. Und erst zum Schluss erhalten die verschiedenen Serien ihre Titel.aus dem Interview zuM Thema Starke Frauen. Starke Künstlerinnen auf der Website literaturherbstheidelberg.de
Im Atelier
Und wie arbeitet sie? Einen kleinen Einblick schenkt das Video, das im Rahmen von »Auftakt Kunst« entstand, einem Corona-Soforthilfe-Projekt des Kulturamts der Stadt Heidelberg:
Video-Link: https://www.youtube.com/watch?v=qOvfc2NWZoA
Zwischenbemerkung: Pellegrino Vignali und Cholud Kassem
2016 hatte Cholud einen Wunsch: Die Arbeiten des Italieners Pellegrino Vignalis sollten gemeinsam mit ihren zu sehen sein.
Vignali, einfacher Bauer, hatte im Alter begonnen, Gesichter, Tiere und Pflanzen zu schnitzen und zu malen. Einfach so. 1984 starb er.
Thomas Röske, Leiter der Heidelberger Sammlung Prinzhorn, und Studierende der Universität unterstützten sie bei ihrem Vorhaben: So kam eine Ausstellung im Haus Cajeth zustande.
Haus Cajeth in der Heidelberger Altstadt beschreibt sich selbst als: »Museum für primitive Malerei – Outsider Art«.
Die Kunst einer Lebenden und die eines Verstorbenen trafen sich. Das faszinierte mich: Verwandte Seelen sind nicht durch Zeit getrennt.
Al Watan – vom Reisen und Ankommen
Eine besondere Serie ist »Burka Hidschab Nonnenschleier«. Nach 40 Jahren hatte Cholud ihre Mutter wieder getroffen, von der sie in der Zwischenzeit nichts gehört hatte. Das Wiedersehen bewegte sie sehr, sie begann, auch ihre orientalische Herkunft in die Kunst einfließen zu lassen.
Vier Jahre später – in der Ausstellung »Al Watan – vom Reisen und Ankommen« – zeigte sie parallel zu ihren Malereien private Fotos in Form eines Videos. Das Plakat zur Ausstellung zierte ein Selfie im Auto mit zwei Tanten aus den Emiraten und aus der Türkei:
Die Ausstellung war bis vor Kurzem im Kunsthaus Viernheim zu sehen. Viernheim, dem Ort der Kindheit. Hatte sich ein Kreis geschlossen? War sie angekommen?
Die Reise geht weiter. [..] Wenn Reisen und Ankommen im Leben ein abschließbarer Prozess sein sollten, dann wohl nur im Tod. Ansonsten würde ich sie wohl eher als einen ewigen Prozess charakterisieren.
Erfolg
Angekommen ist auf jeden Fall Choluds Kunst. Was sie vor dreißig Jahren selbst nicht geglaubt hätte, ist wirklich geworden. Dank diszipliniertem Arbeiten und dem Umstand, dass gute Freunde und Institutionen ihre Kunst förderten, kann Cholud heute als freischaffende Künstlerin leben.
Außer der Stadt Heidelberg und dem Landratsamt des Rhein-Neckar-Kreises haben inzwischen auch das Regierungspräsidium Karlsruhe und das Verteidigungsministrium in Berlin Arbeiten angekauft.
Erfolgreich sein kann müde machen. Oder eingebildet. Nicht Cholud: Sie bleibt bescheiden, menschlich und auch ehrgeizig. Die Anerkennung verleiht ihr zusätzlichen Schwung: Seit einiger Zeit ergänzt sie ihre Malerei mit neuen Techniken, plastische Arbeiten entstehen oder Videoproduktionen.
West German Pottery – Vasen – Work in Progress
In der Serie »West German Pottery« sind Vasen zu sehen. Vasen dienen als Behälter für Wasser und Blumen, gemeinsam mit diesen schmücken sie Räume. Cholud hat eine dritte Funktion entdeckt: Vasen speichern Erinnerung. Das Thema kommt bekannt vor.
Seit zwei Jahren trägt sie geerbte, gekaufte oder beim Entrümpeln gefundene Vasen zusammen und notiert die Geschichten, die Menschen über diese erzählen. Was daraus entstehen wird? Wir sind gespannt 🙂
Links
- Website Cholud Kassem
- Kunsthaus Viernheim
- Auftakt Kunst, Corona-Soforthilfe-Projekt des Kulturamts der Stadt Heidelberg, Film über Cholud Kassem auf YouTube
- Literaturherbst Heidelberg, Starke Frauen, Interview mit Cholud Kassem
Noch ein kurzer Hinweis zum Schluss: Im wunderschönen Kunstraum Vincke-Liepmann in Heidelberg wird im Frühjahr 2023 die nächste Ausstellung Choluds zu sehen sein, die fünfte bereits in diesem Haus. Der genaue Termin steht noch nicht fest. Wir werden ihn rechtzeitig auch hier bekannt geben.
Nachtrag: Artikel im Boesner Kunstportal (September 2023)
Julia Behrens hat im boesner Kunstportal hat ein schön geschriebenes Portrait über Cholud veröffentlicht, Titel »Im Schutz des Rituals«.
Zum Portrait auf der Website boesner
Unsere Reihe Talent des Monats
Von Zeit zu Zeit stellen wir in dieser Rubrik Künstlerinnen und Künstler vor. Maler:innen, Bildhauer:innen, Musiker:innen – wir sind da vollkommen frei. Treu sind wir nur unserem Motto: Bilden schützt.
Alle vorgestellten Talente
- 20. Dezember 2023
- 26. November 2023
- 15. November 2022
- 27. Juli 2022
- 24. April 2022
- 21. Februar 2022
- 24. Dezember 2021
- 8. November 2021
- 8. Oktober 2021
- 24. August 2021
- 28. Juli 2021
- 23. Juni 2021
- 20. Mai 2021
Ansprechpartner
Telefon: +49 173 6549710
E-Mail: armin.briatta@dbbakademie.eu
mehr über Armin Briatta
Berufserfahrung
- Arbeit mit direktem Kundenkontakt in der Gastronomie
- Arbeit als Fotograf bei gesellschaftlichen Anlässen
- Seit über 20 Jahren freiberuflicher Webdesigner
Aus- und Fortbildungen
- Diplomierter Kommunikationsdesigner Schwerpunkt Fotografie (1987)
- Fortbildung zum Multimediaentwickler (2002)
Eine beeindruckende Persönlichkeit, die Vorbild sein kann.
Vorbild an Kraft und an Zielstrebigkeit
Vorbild an künstlerischem Geschick und technischer Fertigkeit
Vorbild an Lebensbejahung und Freude an Schönem
Vorbild an Achtung der Leistung anderer
Cholut Kassem ist eine beeindruckende Künstlerkolegin. Ihre zeichenhaften Motive faszinieren auf Anhieb. Meine Gedanken bleiben an den Werken hängen und tiefere Gedanken gesellen sich hinzu. Sie versteht es in ihrer Kunst uns eine tiefe Warheit über die Welt und ihre Zusammenhänge zu erzählen. Danke Armin..für dieses neue Tanlent des Monats.
Kleiner Hinweis:
Am 5. Mai 2024 findet im Heidelberger Stadtteil Kirchheim der zweite Kunstspaziergang statt. Künstlerinnen und Künstler öffnen ihre Ateliers – eine gute Gelegenheit, Cholud persönlich kennenzulernen. Ihr Atelier ist geöffnet von 12 bis 18 Uhr.
Alle Infos auf ihrer Website: https://choludkassem.de/2024-kunstspaziergang-in-heidelberg-kirchheim/